Leseprobe

Die Chroniken von Mistle End

Band 1 – Der Greif erwacht

Roman von Benedict Mirow

Kapitel 1 – Der Zug ans Ende der Welt

Der Zug fuhr über eine Weiche, es gab einen scharfen Ruck, und sein Kopf schlug hart gegen die Fensterscheibe. Er stöhnte und rieb sich die pochende Stirn. Er war eingeschlafen und hatte schon wieder diesen Traum von dem brennenden Wald gehabt. Oder eher Albtraum. Wie vor ein paar Tagen. Er verzog das Gesicht und sah sich um. Die Gepäckablagen ihres Abteils waren bis unters Dach mit Kisten, Koffern und Taschen vollgestellt. Sie hatten schon früh die letzten Vororte Londons hinter sich gelassen, waren ein paarmal umgestiegen und befanden sich nun in diesem alten und völlig überheizten Zug nach Schottland. Er schaute nach draußen. Schneeflocken wirbelten vor der vorbeiziehenden Hügellandschaft durch die Abenddämmerung.

Der Dauerregen Englands war irgendwann in dichtes Schneetreiben übergangen und je weiter sie nach Norden fuhren, desto höher lag der Schnee auf den immer steiler werdenden Hängen rechts und links von der Bahnstrecke. Dabei waren sie nicht etwa auf dem Weg in die Winterferien, sondern unterwegs in ihr neues Zuhause – ein kleiner Ort hoch oben in den schottischen Highlands.

Mistle End.

„Cedrik?“

Eher End of the World.

„Cedrik!?“

Er sah auf. Dad.

Sein Vater Aengus O’Connor, den alle eigentlich immer nur O’Connor nannten, war jetzt wahrscheinlich schon zum hundertsten Mal aufgesprungen, um unruhig durch ihre Habseligkeiten zu wühlen. Er stand auf dem Sitzplatz neben ihm und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen von oben herab an. „Cedrik, hast du auch ganz sicher die Kiste mit dem Lexikon der Fabelwesen mitgenommen!? Ich sehe sie nirgends!“ Seine Stimme klang panisch.

Cedrik grinste müde. „Weil sie hinter dem Koffer steht, Dad! Du kannst sie da nicht sehen.“

Aengus O’Connor war Ende dreißig und hatte wie sein Sohn braune Haare und leuchtend grüne Augen, die allerdings in seinem Fall hinter dicken Brillengläsern seltsam klein wirkten. Er war ein typischer Bücherwurm. Eine durchaus hilfreiche Eigenschaft als Wissenschaftler, Historiker und angesehener Experte für die Mythologie Großbritanniens. Als solcher war er noch vor Kurzem im „Königlichen Museum für Fabelwesen“ in London angestellt gewesen.

Niemand hatte ahnen können, dass es nur wenige Tage nach Cedriks zwölftem Geburtstag schließen musste. Zu wenig Menschen interessierten sich noch für die alten Geschichten von Ungeheuern und magischen Kreaturen und von einem Tag auf den anderen war Aengus arbeitslos.

Ihr Leben änderte sich schlagartig. Es gab wenig offene Stellen für Mythologen und da die beiden schon immer allein lebten, musste sein Vater letzten Endes eine Anstellung als Lehrer annehmen. In einem Ort, der so klein und unbedeutend zu sein schien, dass ihn Cedrik auf keiner Karte finden konnte und wo ganz sicher kein Mensch leben wollte.

„Ein bescheuertes, kleines Kaff in den Bergen, voll schottischer Bergtrolle“, so hatte es Cedrik im Zorn genannt. Aber dann doch schweigend seinem Vater geholfen, ihre Habseligkeiten in die abgewetzten Koffer und Taschen zu packen. Er war erstaunt, als er merkte, dass sich ein kleiner Teil in ihm sogar auf die Berge freute. Und den Schnee. Viel war es ohnehin nicht, was er vermissen würde. Von seinem Freund Jack einmal abgesehen.

Die meisten Bücher hatte Aengus im Keller seines alten Museums unterstellen können, für die wirklich wichtigen hatten sie einem benachbarten Weinhändler vier feste Holzkisten abgeschwatzt. Und schon am darauffolgenden Tag hatte Aengus O’Connor den Brief mit den Bahntickets nach Mistle End erhalten. 2. Klasse, für ihn und Cedrik. Ohne Rückfahrschein.

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