Leseprobe
Ihr Weg hatte die kleine Gruppe im Land Rover auf ein Hochplateau geführt, das den Blick auf ein Tal freigab, an dessen Ende – umrahmt von sanft ansteigenden, tief verschneiten Hügeln – die goldenen Lichter einer kleinen Ortschaft aufleuchteten. Hier oben hatte der Himmel aufgeklart und der Mond zeigte sich hinter vorbeiziehenden Wolkenfetzen.
„Ist es das?“, fragte Cedrik.
„Mistle End“, erwiderte Esmeralda und nickte. „Ich bin mir sicher, es wird dir gefallen!“
Die Straße schraubte sich entlang schroffer Hänge tiefer in das Tal hinein und tauchte in einen düsteren, laublosen Eichenwald ein, der die kleine Stadt wieder vor ihnen verbarg.
Cedrik stieß sich den Kopf, als der Wagen durch ein unter dem Schnee verborgenes Schlagloch rumpelte. Esmeralda sog scharf die Luft ein, sagte aber kein Wort. Im fahlen Licht des Mondes sahen die Bäume seltsam verkümmert aus, wie vom Alter gebeugte Greise, die ihre langen, dürren Arme nach ihnen ausstreckten. Cedrik fühlte sich auf einmal wie ein Eindringling.
Unheimlich,dachte er, und sah ein flackerndes Licht zwischen den Bäumen aufblitzen. Erstaunt verdrehte er den Kopf, um besser sehen zu können, was da hinter den Autofenstern an ihnen vorbeizog: Unter einer riesenhaften Krüppeleiche, auf einer kleinen Anhöhe mitten im Wald, standen eine Handvoll Männer und Frauen im Schnee und bildeten, Fackeln in der Hand, einen Kreis um einen Jungen. Über ihnen, im Geäst des kahlen Baumes, baumelten leere Flaschen und Knochen. Spiegelscherben schaukelten im Wind und warfen schaurige Blitze durch die Nacht. War das ein Vogel auf seiner Schulter?!
Cedrik konnte nicht erkennen, was genau die Leute unter dem Baum dort taten, aber der Junge in der Mitte hob den Kopf und blickte in seine Richtung. Im Licht der Fackeln schienen seine Augen aufzuleuchten. Cedrik lief ein Schauer über den Rücken.
Sie fuhren um eine Kurve und er konnte die geisterhafte Szenerie nicht weiter beobachten.
Der Wald lichtete sich und vor ihnen öffnete sich der Talboden. Je näher sie dem Ort kamen, desto deutlicher zeichneten sich die schmalen Häuser mit ihren schneebedeckten Dächern und den verspielten Wasserspeiern im Mondlicht ab. Er war größer, als Cedrik erwartet hatte. Er sah kleine Türme und pittoreske Wetterfahnen, ein Fluss strömte aus der Stadt und schlängelte sich wie ein dunkles Band durch die sanft beschienene Ebene.
Die kleine Stadt war von einer mittelalterlichen, Zinnen bewehrten Mauer umgeben, und als sie mit dem Auto durch ein düster wirkendes Stadttor einfuhren, hatte Cedrik das Gefühl, in eine Welt aus längst vergangenen Tagen einzutauchen. Und was aus der Ferne noch fremd, kalt und abweisend gewirkt hatte, empfing sie nun mit einer erstaunlichen Wärme, ja fast schon Festtagsstimmung. Der Schnee, der überall auf der Straße lag, glitzerte golden im Licht altmodisch wirkender Straßenlaternen. Die meisten Häuser des Dorfes waren aus dunklem Sandstein, schmal und hoch, im gotischen Stil erbaut. Sie wirkten mit ihren Treppengiebeln, Erkern und reich verzierten Fassaden auf fast magische Weise verwunschen. In den meisten Häusern brannte Licht, über so manchen Türen und Fensterrahmen konnte Cedrik Misteln oder Stechpalmenzweige erkennen. Wenn ihnen plötzlich eine Kutsche oder ein Pferdeschlitten entgegengekommen wäre, hätte Cedrik das wenig gewundert. Mr McKanaghan kurvte erstaunlich vorsichtig durch die immer enger werdenden Gassen, bis sie durch eine steinerne Toreinfahrt fuhren und auf einem von hohen Bäumen gefassten Innenhof stehen blieben.
„Da wären wir. Aberdeen Square 13. Die Schule von Mistle End.“